Michael Tillmann


Der träumende Planetenmaler

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"(…), denn in Wahrheit ist´s ja der Gegenstand, nicht aber dessen Behandlung,
was den echten Wert des Gemäldes bestimmt."

"Ein Bild des Malers Schalken"
Joseph Sheridan Le Fanu (1814-1873)

Momente können sich strecken. Licht ist schnell, aber was nützt das schon, wenn doch das menschliche Auge langsam ist - oft zu langsam für die Wahrheit.

Kaltes Sternenlicht drang schleichend in das Wohnzimmer. Schon lange konnte David die akribischen Bilder im Buch auf seinen Knien nicht mehr erkennen. Er kauerte einfach nur im Sessel, starrte in die Schwärze und ließ zu, dass der Moment sich streckte und streckte.

Doch Dunkelheit kann die Wahrheit nicht verbergen. Durch das Aufschlagen dieses harmlosen Bildbandes hatte sich sein Leben blitzartig verändert. Bis vor dieser so einfachen Handlung hatte er noch das Sternenlicht geliebt. Nun war er wohl der erste Raumfahrer, der sich vor dem faszinierenden Licht der Sterne ängstigte wie ein Kind vorm schwarzen Mann oder der möglichen Scheidung der Eltern. Ängste sind sehr vielgestaltig.

Gedanken sind langsam, aber Ängste sind schnell. Ängste sind sogar tausendmal schneller als das Licht. Raumfahrer sind solide, rationale, stoische, wissenschaftliche Menschen. Doch nur ein Blick auf diese bunten Bilder und David war in einen Mystiker verwandelt worden. Diese gemalten Planetenbilder waren der Beweis, dass Shakespeare mit seinem ach so vielzitierten Ausspruch die Wahrheit sprach.

David hatte alle diese Planeten selber gesehen und sogar betreten. Es waren die Planeten des heimischen Sonnensystems. Er hatte an der schon legendären, großen Expedition teilgenommen, die alle Planeten kartographisch neu erfasste.

Neben den Aufgaben der eigentlichen Kartographie war auch die Photographie ein wichtiger Bestandteil der Großen Expedition gewesen. Diese überaus interessante Aufgabe war damals auf den dafür talentierten David gefallen.

Als er in jenen Tagen die Photos von den bizarren, toten, tödlichen Planetenoberflächen machte, hatte er ständig eine Art von Déjàvu-Erlebnis. Es war eigentlich nicht direkt das Gefühl gewesen, diese Situationen schon mal erlebt zu haben. Er schien mehr das Gefühl zu sein, diese labyrinthhaften Landschaften schon einmal genau so erblickt zu haben. Das konnte jedoch nicht sein, da es ja die erste Expedition dieser Art war. Der Raumfahrer hatte niemanden etwas von seinen Gefühlen gesagt. Warum auch? Was könnte man auch auf so eine absurde Beschreibung seiner Eindrücke antworten? Wahrscheinlich hatte man nur lachen können.

Auf der Rückreise zur Erde erinnerte er sich dann, dass er als Kind ein Buch mit Planetenbildern besessen hatte. Sein Interesse für den Raumflug und die Erforschung der Himmelsgebilde war schon immer sehr groß gewesen. Diese Bilder waren aber nur Phantasien eines Künstlers mit dem albernen Pseudonym Jack Planet. Dieser komische Jack Planet hatte immer behauptet, jede Einzelheit dieser Landschaften erträumt zu haben.

David nahm sich vor, dieses alte Werk irgendwann einmal rauszusuchen. Dieser Vorsatz wurde aber immer wieder vom Tagesgeschehen verschüttet. Heute, seit seiner Rückkehr hatte die Erde drei Durchläufe um die Sonne absolviert, hatte er endlich mal die Zeit dafür gefunden. Nun nach fast 35 Jahren hatte David dies verschollene Buch gesucht und wurde schließlich auf dem Dachboden fündig. Der Einband sah noch ganz gut aus, doch das mächtige Buch schien nicht mehr so schwer wie in den Kindertagen zu sein.

Der Erforscher seiner Jugend war ins Wohnzimmer gegangen, hatte sich in den großen Ohrensessel gesetzt und das Buch gespannt aufgeschlagen. Ein Paukenschlag. Ein Kessel mit brennendem Schwefel. Ein Feuer brannte durch sein Gehirn. Ja, er hatte die Landschaften wiedererkannt. Aber mehr noch: jeder Berg, jeder Mäander, jede Doline, ja sogar jeder unbedeutende Stein auf den mit pingeliger Genauigkeit bemalten Leinwänden schien ein treues Abbild seiner eigenen Photos zu sein. Selbst die Farben waren sehr gut getroffen. Getroffen von einem träumenden Mann, der sie Jahre vor dem Raumflug schon mit Öl bannte.

Es gab dafür nur eine Erklärung, die für einen Wissenschaftler aber keine Erklärung sein durfte: Ein Künstler konnte durch übersinnliche Kräfte die Realität und die Zukunft im Traum sehen; ein Maler hatte früher schon gesehen, was damals noch kein Wissenschaftler erblicken konnte. Diese Erklärung zerstörte alle Gewissheiten in David. Die Wissenschaft verwandelte sich ein einen traurigen Scherbenhaufen der Eitelkeit.

Was sollte der Dachbodenstöberer machen? Er müsste sein Schweigen brechen und morgen seinen Vorgesetzten informieren. Nun konnte er es ruhig erzählen, denn er hatte ja Beweise. Amtlich beglaubigte Kopien seiner Photos befanden sich im Besitz der Raumfahrtbehörde. Die Echtheit und das Alter des Buches nachzuweisen, dürfte auch keine Schwierigkeit sein, da wahrscheinlich Kopien in den Archiven der Universitätsbibliotheken lagen.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnte ein Beweis für ein paranormales Phänomen erbracht werden. Oh, eigentlich ein Grund zur Freude für alle Freunde der Wahrheit, aber eine solche konnte David nicht fühlen. Spürte nur Angst. Es war die vielzitierte Angst vor dem Unbekannten. Oder sollte man vielleicht besser sagen, dass es die Angst vor der Wahrheit war?

*

Das Licht der Sterne dringt schweigend durch den Raum und fällt schlafenden Menschen auf die bleiche Stirn, die doch erst bleich wird durch das Licht eben dieser Sterne. Was träumen diese Menschen? Was sollen Menschen, diese selbsternannten Kronen der Schöpfung, schon träumen?

Vielleicht träumen sie vom Sex mit den Menschen, die nicht an ihrer Seite liegen. Vielleicht träumen sie von der Gewalt gegen die Personen, vor denen sie bei Tageslicht kuschen müssen? Vielleicht träumen sie auch nur von Schweinebraten und Bier? Vielleicht träumen sie einen hellsichtigen Nachtmahr, der ihnen die grenzenlose Banalität ihres kurzen Lebens veranschaulicht. Vielleicht aber gibt es dort einige wenige, die träumen wahrhaftig vom Licht der Sterne, das sie bescheint.

*

"Mutter, im All gibt es keinen Tag und keine Nacht. Die Sterne weinen, denn ohne Nacht können sie nicht träumen. Sie überlegen, ob sie vielleicht selber nur Träume sind, denn Träume können sicherlich nicht träumen. Können Träume denn weinen?"

"Mein Kind, nur Träume können weinen!"

*

David träumte von einem Maler. Die große Staffelei stand in einer Penthousewohnung. Nacht lag über den Bildern. In der Luft kreiste die Musik von Dead Can Dance, die man immer wieder bemühen sollte, wenn es ums Träumen und um Würde geht. Auf dem Boden lagen alte Bücher, alten Träumen gleich. Die schräge Decke des Penthouses bestand gänzlich aus Glas und verchromtem Stahlgerüst. Nur das Licht der Sterne führte den Pinsel. David trat näher an das Bild. Der wissende Träumer sah die Landschaft und erkannte sie.

Der Maler sah sich um, blickte David in die Augen. Es war der müde Sprecher der Spätnachrichten. Das schwarze Toupet lag zu tief in der Stirn. Der blaue Anzug schien sehr gepflegt, aber die gelben Farbspritzer auf dem weißen Hemd störten den Gesamteindruck etwas.

Der Pinsel wurde in grüne Farbe getaucht und dann über das Gesicht des Träumers geführt. Er schrieb: Idiot.

Die Musik war verklungen. Die Stille bestand aus Sternenlicht. Eine morsche Stimme hinter der Leinwand flüsterte: "Sag es ihm! "

Der Sprecher der Spätnachrichten sprach: "Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie!"

Die Stimme hinter der Leinwand flüsterte: "Sag es ihm! "

Der Maler klopfte David auf die Schulter und meinte brüderlich: "Nimm es nicht so schwer, ja?"

Die Stimme hinter der Leinwand flüsterte zum dritten Mal die gleichen Worte: "Sag es ihm!"

Nun breitete der müde Nachrichtensprecher seine Arme aus, schloss die schweren Augen und lachte: "Die Wissenschaft ist tot! Sie ist so tot wie die Religion. Nur das Unverständnis wird uns alle überleben. Doch das werden wir nicht verstehen."

*

Jeder Traum hat ein Ende. Am frühen Morgen betrat David mit einem Aktenkoffer das helle Büro seines Vorgesetzten. Dieser war erstaunt, ja fast besorgt, David während der Urlaubszeit hier zu sehen. Freundlich bot er seinem Mitarbeiter einen Stuhl an.

David setzte sich und suchte dabei noch immer verzweifelt nach einem guten Anfang für seine Rede. Sein Vorgesetzter galt nicht als ungeduldig. Daher bestellte er erst mal Kaffee und erzählte von seiner zweiten Frau. Sie war jetzt schwanger. Die künstliche Befruchtung nach der neuen Methode von Professor Thüring hätte sofort funktioniert. Seine erste Frau würde jetzt wieder heiraten, einen nichtsnutzigen Dichter mit langen Haaren.

Schließlich begann David, der wirklich keine weiteren Familiendetails hören wollte: "Es ist wichtig. Bitte wundern Sie sich nicht über meine Frage! Kennen sie vielleicht den Maler Jack Planet?"

"Was für ein Zufall! Ich habe gerade gestern sein neues Buch gekauft", antwortete der Chef.

Nun war wiederum David überrascht und sprachlos. Sein Boss grinste breit und meinte: "Ja, man glaubt manchmal gar nicht, wer sich alles für Kunst interessiert, was? Bin nicht nur ein kühler Bürokrat, ein Manager. Auch wenn ich kein langhaariger Dichter bin, habe ich doch ein Herz für die Kunst. Sogar ein Theaterabo habe ich, auch wenn ich es nicht oft nutzen kann. Ich verstehe meine erste Frau wirklich nicht. Jack Planet ist wirklich mein Mann. Natürlich mag ich nicht alle Maler. So finde ich, dass man diese Bild von dem Kerl, der immer nur Brandopfer hinschmiert, verbieten soll. Ist doch pervers. Wie war doch noch sein Name? Stellen Sie sich vor, meine Ex-Frau mochte seine Bilder!"

David hätte gern die Augen verdreht, bat aber nüchtern den verworrenen Redenden, die Photos der schon bereits legendären Mission zu holen. Die Sekretärin wurde losgeschickt. Das konnte etwas dauern, da man mit solchen Pfennigabsätzen keine großen Sprünge machen konnte, schon gar nicht, wenn der Rock so eng saß.

So also warteten sie. Der Boss faselte schon wieder von seiner ersten Frau. Der Raumfahrer wurde nervös. Da er nun, da der Anfang gemacht war, nicht mehr warten konnte, rasselte er, seinen Vorgesetzten erneut unterbrechend, die ganze Geschichte ohne Punkt und Komma runter, ohne dabei auf das verwunderte Gesicht seines Mannes zu achten.

Noch bevor dieser sich wieder gefasst hatte, kam die Sekretärin zurück, lieferte die Photos ab und verließ den Raum. David holte schnell das Buch aus der Tasche, schlug es auf, legte es neben die Photos und wartete.

Der Boss verzog erst keine Miene. Doch als er dann das Erscheinungsdatum überprüft hatte, passierte etwas sehr Seltsames. David hatte zwar damit gerechnet, dass selbst sein sonst so selbstsicherer Chef sich vielleicht erschrecken würde, aber die Reaktion war schlimmer als erwartet, - viel schlimmer als erwartet.

Es war wie im Medizinbuch. Der arme Mann wurde kreideweiß, Schweiß überschwemmte sein Gesicht und schließlich griff er sich zitternd ans Herz. Der Verursacher dieser Schmerzen stand auf und versuchte es mit beruhigenden Worten. David hatte ein schlechtes Gewissen. Sein Boss ahnte das und trotz seiner Pein sagte er: "Sie sind nicht schuld. Es ist..."

Er schnappte nach Sauerstoff und redete dann weiter: "Es ist... es ist... ach... sehen Sie doch selber... dort... dort in meiner... in meiner Aktentasche!"

Zuerst rief David der Sekretärin im Nebenzimmer zu, sie sollte einen Krankenwagen rufen, dann erst öffnete die schwere Aktentasche. In ihr wartete ein großes Buch: Jack Planet - "Meine neuen Planetenträume".

Werbetext: Nach über 35 Jahren nun endlich der zweite Teil! Was uns dort draußen noch alles erwartet? Sehen Sie selbst!

Nun auch hitzig schlug David die Seiten auf. Ein neuer Paukenschlag. Ein neuer Schmerz. Eine neue Seite der Wahrheit?

Während sich seine Nackenhaare aufstellten, hörte er die Worte seines Vorgesetzten: "Sehen Sie selbst! Himmel, sehen Sie doch diese lovecraftschen Schrecken! Die Anatomie unserer Alpträume. Sehen Sie dieses kriechende, stinkende Gewürm? Sehen sie ihre kauenden Münder? Sehen Sie das Sternenlicht in ihren wissenden Augen? Sehen Sie die schleimigen Götter des Wahnsinns? Alles selbstverständlich wieder nur Träume! Nur Träume!!! Nicht als Träume!!!"



© 1996/2004 Michael Tillmann; revidierte Fassung; Erstveröffentlichung 1997 bei GOBLIN PRESS in meiner inzwischen vergriffenen Kurzgeschichtensammlung "Das Grinsen im Labyrinth".

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